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Lebendiges Barometer oder 200 Tage einer Krankheit (1999)

Seit mehr als zwanzig Jahren beschäftige ich mich mit Malerei, sie ist für mich zum vertrauten Medium des Selbstausdrucks geworden. Seit einiger Zeit schreibe ich. Seit mehr als sieben Jahren bin ich an MS erkrankt. Ich habe erfahren, dass Menschen, die an Multipler Sklerose leiden, über eine unikale Fähigkeit verfügen: Sie reagieren übersensibel auf die verschiedenen Lebens- und Naturzustände. Sie sind also so etwas wie lebendige Barometer. Veränderungen der Temperatur, des Luftdrucks, der Feuchtigkeit, aber auch von Stimmungen fühlen wir um vielfaches verstärkt im Vergleich zu gesunden Menschen.

Zweihundert Tage lang habe ich täglich ein Bild (40x50) gemalt, in dem ich auf lakonische Art die Eindrücke des von mir durchmessenen Tages konzentrierte. Der ständige Wechsel meiner Messergebnisse führte zu einer Reihe von stilistischen Einfällen, die jeweils eine Zeitlang verfolgt, dann aber von neuen Verfahren abgelöst wurden. Dadurch entstanden Binnenzyklen, die von figurativen Bildern, über Comics und Brieffragmenten zu den das Projekt dominierenden abstrakten, rhythmisch geprägten Bildern reichen. Ausserdem wurde der Tag schriftlich fixiert. Dafür entstand eine eigene, stark graphisch geprägte Schrift, die die Tagebuchblätter zu einem auch ästhetisch gleichwertigen Ausdruck des Tages werden ließen.

Die Themenfarben: Schwarz, Weiß, Blau, Rot - meine Bilder ändern jeden Tag ihre Farbe. Jeder Tag hat seine Stimmung, sein Thema, seine Farben.

Festtage: Die schönsten Tage meines Projekts - mein Geburtstag, 8. März, 1. Mai, Feste, die man bis heute in Russland feiert. Tage, an denen ich meinen Freunden begegne, im Leben, am Telefon oder in der Erinnerung.

Tage der Trauer: Ich bin nicht gesund, und das ist manchmal traurig. Besonders bei ungünstigem Wetter. Manchmal geschehen traurige Dinge, der plötzliche Tod meines Vaters z.B. Die Tage der Trauer bilden einen ganzen Zyklus von Bildern.

Gespräche: Text, Briefe oder Gespräche sind das Thema an vielen Tagen. Ich schreibe malend meiner Frau einen Brief, spreche mit einem Vogel im Schnee oder denke mir den Text für eine Bildergeschichte aus.

Erwartung: Manchmal bin ich voller Erwartung, ich warte voll Freude auf ein Treffen, eine Veränderung, eine Entwicklung.

Rhytmus: Ich zähle die Tage, die Stunden, die Minuten. Ich fühle das Schlagen der Zeit. Und das erfüllt mich mit Hoffnung.

   
       
       
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